Wenn man sich «Stabilität» vorstellt, kommen oft Bilder wie «Stahl» (Bauten!) oder Stein (Berge!) oder «starke Muskeln» (Kraft!). Diese Bilder suggerieren etwas Hartes und dabei kommt man zum Schluss dass man mit Abhärten des Körpers die erwünschte bzw. verlorene Stabilität wiedererlangen kann. Das stimmt zum Teil, kann aber auch zum Problem werden.

Just in den Momenten, wann man die fehlende Stabilität wahrnimmt (z.B. Verlust des Gleichgewichts) versteift man den Körper. Doch die Steifheit einer solchen Angstreaktion bringt uns in eine instabile, delikate Lage – ohne gute Verbindung zu den Füssen/zum Boden bzw. ohne das Gefühl des sicheren Mittelpunkts.

Tai Ji ist eine Bewegungskunst die ihre Wurzel im Kampfsport hat. Die Tai Ji Bewegungs- und Haltungsprinzipien führen nicht nur zu einer Erhöhung der Effizienz, sondern auch zur Optimierung der Kraft und der Ausdauer.  Einige dieser Prinzipien zielen auf die Verminderung von Spannungen im Schulter-/Nackenbereich sowie das Leiten der Energie nach unten und sind so besonders wertvoll u.a. für Patienten mit Gleichgewichtstörungen, Schwindel und Migräne.

Aber auch über Kampfsport kann man erklären, wieso es keinen Sinn macht, sich zu versteifen. Es bietet sich hier auch wunderbare Partnerübungen an. Für die einen Patienten sind Kampfsport-Vergleiche und -Übungen lustig, begreifbar und überzeugend, für die anderen eine stressbeladene Situation – so muss man aufpassen, ob die Gruppe für dieses Thema offen ist.

Verminderung von Spannungen

Einfach gesagt: Härte (Steifheit) bringt nichts! Wenn ich in einer Kampfsituation wäre und meinen Arm steif vor mir halten würde, könnte der Gegner mit wenig Kraft meinen steifen Arm drücken und meine Steifheit benutzen, um mich aus dem Gleichgewicht zu werfen. Wenn ich aber lockere Arme (& Schulter) hätte, könnte der Gegner mich nicht so einfach umhauen.

Um die Schultern locker zu kriegen, verwendet man am besten den «Ellenbogen-Trick». (Bild unten) Man soll auch darauf achten, die Arme nicht zu hoch zu halten. Einerseits verursacht dies Spannungen (Trapezmuskel) und anderseits kostet das zu viel Energie. Stellen Sie sich vor, sie wollen etwas Boxen. Wo sind ihre Fäuste? Wenn die höher sind als die eigenen Schultern, spürt man wie alles etwas mühsamer ist bzw. wie man in dieser Situation schnell müde wird. Wenn sie etwas tiefer gehalten werden, dann hat man mehr Ausdauer.

Diese lockere Armhaltung ist nicht nur beim Kampfsport nützlich sondern auch im Tai Ji zentral und notwendig. Bewegen in langsamem Tempo kostet uns viel Kraft und Energie, denn wir tragen unsere Glieder andauerend. Um eine Stunde Tai Ji zu trainieren, muss man die lockere, tiefe Armhaltung respektieren – sonst wären die Spannungen im Schulter-/Nackenbereich zu unangenehm und man würde sich erschöpfen. Die alten Meister haben diese Ideen so beschrieben: Oben leicht, unten schwer.

Energie nach unten leiten

Die Spannungen im Schulter-/Nackenbereich machen es schwierig, das Gleichgewicht zu halten – sei dies wegen einer Dysbalance der Wirbelsäulenmuskulatur oder sei dies weil diese Spannungen die Kommunikation zwischen Kopf und Fuss beeinträchtigen.

Schon wieder ein Grund, diese Spannungen in den Griff zu bekommen! Wenn man diese überflüssigen Spannungen als Energie betrachtet, kann man sich vorstellen, dass diese Energie weggeleitet werden sollte oder ins Fliessen gebracht werden könnte. Aber wie macht man das? Es gibt ein eine uralte Qigong-Methode, die jedermann anwenden kann:

Dort wo ihre Aufmerksamkeit/Intention geht, folgt die Energie.

Dies ist erstaunlich einfach – wird aber erst nach etwas Übung besser wahrnehmbar bzw. vertraut. Die Energie (Qi) leiten wir durch die Intention (Yi), wenn wir unsere Aufmerksamkeit bewusst zielen können. Wenn ich z.B. die Gewichtsverlagerungen auf meiner Fusssohle bewusst spüren kann, dann zielen meine Aufmerksamkeit sowie meine Intention (hier die Bewegungsvorstellung und -Steuerung) auch zum Fuss. Meine Energie kann so mit dieser Fokussierung auf die Sensationen und Bewegungen im Fuss nach unten geleitet werden. Und je mehr dass ich auf den Fuss konzentriert bin, desto einfacher kann ich meinen Schulter-/Nackenbereich «vergessen» und los lassen.


Diese Verschiebung der Energie von oben nach unten funktioniert genauso, wenn ich mich auf die Hüftbewegungen bzw. die ruhige, stabile Position des Unterbauchs konzentriere.

Die korrekte Instruktion für die Erklärung und die Ausführung von Tai Chi Figuren wäre also mit Schwerpunkt auf Fussposition / Beinstabilität / Hüftbewegung (Aufmerksamkeit unten) anstatt auf Armbewegungen (Aufmerksamkeit oben). Die Armbewegungen entstehen aus diesen Fuss/Bein/Hüft/Rumpf Positionen und Bewegungen und können m.E. als «Dekoration» betrachtet werden. Diese Umstufung der Wichtigkeit hilft uns, unsere Armbewegungen viel passiver und unser Bein- und Rumpfbewegungen viel bewusster auszuführen. Und dann ist unsere Energie am richtigen Ort: im unteren Dantian! Man kann diesen Vorgang mit der Bewegungskette (Fuss – Bein – Hüfte – Rumpf – Arm) erklären – so steht es in den Prinzipien als «Die Koordination von unten und oben». Oder man kann es einfacher anleiten, und erklären, dass wir bei jedem Mal Fussabrollen das Gewicht auf unserer Fussmitte (Bereich der Fussballen) spüren sollen. So leiten wir unsere Energie zum wichtigen Akpunktur-Punkt N1 Yongquan (Nierenpunkt 1, «Sprudelnde Quelle».) Das beruhigt.

In dieser Übung bauen wir Schulterspannung auf und nehmen diese wahr, dann lassen wir die Spannung bewusst los und spüren unsere verbesserte Stabilität.